26. Februar: Allein in der Dunkelheit (Teil 2) – Von der bitteren Angst einer geplagten Kinderseele

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(Fortsetzung von gestern)

Angsterfüllt stürzt sich die 8-jährige Cosette nun in die Dunkelheit. Das garstige Fauchen ihrer bösen Stiefmutter steht ihr ins Gesicht geschrieben. Cosette ist befohlen worden, nachts einen Eimer Wasser zu holen. Nicht aus einem nahegelegenen Brunnen im Dorf, sondern aus einer weiter entfernten Waldquelle. Bei totaler Dunkelheit und ohne jegliche helfende Begleitung. Für eine sensible Kinderseele ein Grauen ohne Ende. Anfänglich kann sie den Weg noch meistern. Noch befindet sie sich im Schutz des Dorfes und der wenigen noch brennenden Lichter in den Häusern und Geschäften:

Cosette durcheilte das Labyrinth verschlungener und menschenleerer Straßen, das auf der Seite von Chelles das Dorf Montfermeil abschließt. Solange sie Häuser oder auch nur Mauern links und rechts ihres Weges sah, ging sie ziemlich beherzt dahin. Ab und zu erblickte sie den Schimmer einer Kerze durch den Spalt eines Fensterladens. Das war Licht und Leben, dort waren Leute, und sie wurde davon sicherer.“ (S. 456f.)

Dann aber erreicht sie das Ende des Dorfes Montfermeil. Nun enden die schützenden Gassen, und es verlieren sich auch die wenigen, kleinen noch schimmernden Lichtscheine in den Häusern. Da steht sie nun: Hinter sich die Geborgenheit des Dorfes und vor sich nichts als reine Finsternis. Jetzt wird es wirklich ernst für die bibbernde Cosette, und der Gang der Kleinen verlangsamt sich:

Draußen aber, vor dem Ort, wurde ihr Schritt wie unter mechanischem Zwang schleppend. An der Ecke des letzten Hauses hielt sie inne. Über die letzte Bude hinauszugehen war schwierig gewesen, über das letzte Haus, wurde unmöglich. Sie setzte den Eimer auf die Erde, fuhr sich mit der Hand in die Haare und begann sich zögernd den Kopf zu kratzen, eine Geste, die erschreckten und zaghaften Kindern eigen ist.“ (S. 457)

Oh ja, das habe ich auch schon bei Kindern beobachten können, besonders bei ganz kleinen. Wie verlegen sie sich ihre Köpfchen kratzen, wenn sie nicht weiterwissen! Oder wenn sie sich unwohl fühlen, oder nachdenken, oder sich von einem Fremden bedroht fühlen. Die arme kleine Cosette. Da steht sie nun, die Zerbrechliche, kratzt sich ihr ängstliches Köpfchen und wirft ihre Blicke in die undurchdringliche Dunkelheit …

Hier war nicht mehr Montfermeil, hier waren die Felder. Vor ihr dehnte sich schwarzer, öder Raum. Verzweifelt starrte sie in dieses Dunkel, in dem kein Mensch mehr war, in dem es nur Tiere gab und vielleicht Gespenster. Sie sah angespannt hin und hörte die Tiere im Gras rascheln, und deutlich gewahrte sie Gespenster, die sich in den Bäumen regten.“ (S. 457)

Diese Furcht vor dem Unheimlichen kenne ich aus eigener Erfahrung. Vor vielen Jahren lief ich einmal als 13-jähriger ganz allein spät nachts in meinem Heimatort nach Hause. Es war schon lange nach Mitternacht, und so brannte keine einzige Laterne mehr. Weil wohl auch dicke Wolken den Himmel stark bedeckten, war nicht ein einziger Schimmer von oben zu sehen – weder vom Mond noch von den Sternen noch von irgendwelchen Beleuchtungen am Boden. Alles lag in unglaublicher Dunkelheit. Es war so dermaßen finster, dass ich tatsächlich kaum in der Lage war, meiner eigenen Füße gewahr zu werden. Den Asphalt auf Bürgersteig und Straße musste ich Schritt für Schritt vorsichtig ertasten. Ich hatte solch eine Schwärze bis dahin noch nicht erlebt. Für die Strecke, für die ich sonst nur fünf Minuten brauchte, benötigte ich in dieser Nacht sicher mehr als eine Viertelstunde. Und es war unheimlich in dieser Nacht. Weil ich wirklich nichts sehen konnte, musste ich mich ganz auf meinen Tastsinn verlassen. Und mein Gehör war übersensibilisiert. Jedes Geräusch nahm ich wahr – auch das kleinste. Jedes Rascheln, jedes Flattern, jeden Luftzug. Genauso wie Cosette in Hugos Geschichte. In dieser unheimlichen Stille der Nacht dachte ich, ich könne jederzeit einer streunenden Katze unter mir auf den Schwanz treten. Ich fürchtete ständig, dass irgendetwas plötzlich und schrecklich aufschrie in der Nacht. Tatsächlich hörte ich von ferne den schauerlichen Ruf eines Kauzes oder einer Eule. Besonders beängstigend empfand ich es, als der zweite Ruf ertönte. Er erschien mir wesentlich näher als noch der erste. Jedes Rascheln in einer Hecke löste Adrenalinschübe in mir aus. Wie froh war ich am Ende, als ich diese etwa 500 finsteren Meter hinter mich gebracht hatte! Selten war ich so erleichtert, die Hintertür unseres Hauses hinter mir zuschließen zu können – und wenig später sicher unter meiner Bettdecke zu verschwinden!

Die zitternde Cosette ist erst acht Jahre alt. Auch sie möchte sich gerne in diesem Augenblick hinter die Wände eines schützenden Hauses zurückziehen. Sie wittert schreckliche Tiere und Gespenster in der Schwärze der Nacht. Die Angst überkommt sie neu, und sie plant den Rückzug:

Da ergriff sie wieder den Eimer, die Furcht machte sie kühn: ‚Bah‘, sagte sie, ‚ich werde die Nachricht bringen, das Wasser sei alle.‘ Und entschlossen kehrte sie nach Montfermeil um.“ (S. 457)

Die Macht der grauenhaften Finsternis ist stärker! Cosette fürchtet dieses Dunkel noch mehr als ihre unberechenbaren Zieheltern. Kurzentschlossen macht sie kehrt. Doch ihr Weg zurück ist nicht weit. Ein bitteres Zwiegespräch entbrennt in ihrem kleinen Köpfchen:

Nach kaum hundert Schritten stand sie wieder, und wieder kratzte sie sich den Kopf. Jetzt erschien ihr die Thénardier, die greuliche Thénardier mit dem Hyänenmund und dem flammenden Zorn in den Augen. Das Kind warf klägliche Blicke nach vorn und nach hinten. Was sollte sie tun? Was geschah mit ihr? Wohin sollte sie gehen? Vor sich hatte sie die spukhafte Fratze der Thénardier, hinter sich allen Spuk der Nacht und des Waldes. Der Thénardier wollte sie entrinnen. Sie strebte wieder der Quelle zu und lief noch rascher. Laufend verließ sie das Dorf, laufend erreichte sie den Wald und sah und hörte nichts mehr. Sie stockte erst, als der Atem ihr versagte, jedoch unterbrach sie ihren Lauf nicht. Wie besinnungslos rannte sie dahin. Sie hatte Lust zu weinen.“ (S. 457)

(Wie es mit der kleinen Cosette im finsteren Walde weitergeht, erfahrt ihr im folgenden Teil 3 – Fortsetzung folgt!)

PS. Genau heute übrigens hätte Victor Hugo (1802-1885) Geburtstag gefeiert – seinen 212.! Geboren wurde er am 26. Februar 1802 in Besançon / Frankreich).

Literatur:
  • Victor Hugo: Die Elenden. Les Misérables. Aus dem Französischen übertragen von Paul Wiegler und Wolfgang Günther (frz. Originalausgabe von 1862: Les Misérables) (Paris 1951 / Düsseldorf und Zürich 1998 / Düsseldorf 2006; 1.745 S.).

 

 

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